Sieben Sekunden. Meistens weniger. So viel Zeit nimmt sich ein Leser beim Stöbern im Buchladen oder online, bevor er/sie sich entscheidet, ein Buch zu kaufen – oder eben nicht zu kaufen. Das heißt: Die ersten Sätze müssen sitzen. Worauf müssen AutorInnen achten? Hier eine kleine Zusammenfassung.
Der erste Satz
Am ersten Satz scheiden sich die Geister. Den einen fliegt er zu, die anderen müssen erst Stunden auf das leere Blatt starren, bevor sie sich eine paar notdürftige Formulierungen aus den Fingern saugen. Die gute Nachricht zuerst: Wie alles an einem Buch kann auch der erste Satz immer wieder überarbeitet werden. Er muss nicht im ersten Moment sitzen.
Aber seine Rolle darf keinesfalls unterschätzt werden. Er ist die Eingangstür in eine Geschichte und dient damit als Aushängeschild. Er formt die Erwartungen der Leser. Und natürlich soll er zum Weiterlesen anregen.
In seinem wunderbaren Buch „Über das Schreiben” nennt Sol Stein drei Dinge, die der erste Satz - oder auch die ersten paar Sätze - im Idealfall tun sollte:
Er sollte die Neugier der Leser anregen, am besten über eine Figur oder eine Beziehung.
Er sollte den Schauplatz einführen.
Er sollte einen Ausblick auf die Geschichte geben, die den Leser erwartet.
Einer meiner Favoriten kommt aus dem Buch „Lila Hibiskus” von Chimamanda Ngozi Adichie. Er zeigt sehr schön, was alles in einem ersten Satz stecken kann. Hier auf Deutsch und danach im englischen Original (weil die Übersetzung leider die wunderbare, schnörkellose Sprache von Adichie nicht widergeben kann):
Hier lernen wir im ersten Satz eine katholische, afrikanische Familie kennen, deren Vater offensichtlich besonders religiös ist. Wir lernen einen aufsässigen Sohn kennen, den der Vater mit einem cholerischen Anfall straft. Und wir bekommen einen kleinen Einblick in das soziale Milieu: Wer eine Etagere mit Keramikfiguren als Dekoration herumstehen hat, gehört eher in eine gehobene Klasse. Außerdem zeigt Adichie uns gleich mit den ersten Worten, wohin uns die Geschichte bringen wird: Wir werden eine Familie bei ihrem Zerfall begleiten. Übrigens auf sehr eindrucksvolle Weise, ich möchte dieses Buch jedem ans Herz legen.
Der erste Satz kann uns also mit den Figuren in Kontakt bringen, uns ihren Charakter vorstellen, den ersten Konflikt andeuten, das Setting und seine Probleme zeigen. Der erste Satz kann auch Atmosphäre schaffen, uns in die Stimmung des Buches ziehen, uns vielleicht das Genre präsentieren (Fantasy oder Mystery, Sci-Fi oder historischer Roman). Er sollte uns überraschen, uns etwas zeigen, das neu für uns ist – sonst haben wir keinen Grund, uns für die Geschichte zu interessieren.
Wenn ihr mit eurem ersten Satz unzufrieden seid, stellt euch folgende Fragen:
Macht der erste Satz neugierig auf mehr?
Welche Bilder werden dem Leser präsentiert?
Wird eine Figur/ein Ort/ein wichtiges Element des Buches vorgestellt?
Wie werden diese Dinge vorgestellt?
Gibt es Aktivität in dem Satz?
Gibt es etwas Ungewöhnliches, das dem Leser im Gedächtnis bleiben wird?
Der erste Absatz
Viele AutorInnen haben sich mit der Heldenreise auseinandergesetzt, einer formalen und etwas abstrakten Theorie, wie eine gute Geschichte aufgebaut werden kann (ich in diesem Artikel über die Heldenreise geschrieben). Die Heldenreise sieht vor, dass wir den Helden am Anfang der Geschichte in seiner gewohnten Welt antreffen, die er verlassen muss, um sein Abenteuer zu bestehen. Viele Autoren schlussfolgern, dass am Anfang alles quasi normal sein sollte, denn die gewohnte Welt ist oftmals ziemlich ereignislos. Das allerdings ist ein Fehler, denn nichts bringt einen Leser schneller dazu, ein Buch aus der Hand zu legen, als Langeweile.
Die gewohnte Welt zu zeigen, heißt nicht, dass die Geschichte noch nicht losgehen darf. Im Gegenteil: AutorInnen sollten so früh wie möglich Konflikte zeigen, die eine Notwendigkeit für das kommende Abenteuer andeuten. Vielleicht weiß der Held noch nichts von der Affäre seines Mannes, aber irgendwie läuft die Ehe nicht mehr rund. Vielleicht ist der Auftrag, den die Heldin bekommt, auf den ersten Blick ganz unauffällig, aber der Auftraggeber kommt ihr doch ein wenig komisch vor. Einen ganz klassischen Mordfall scheint die Kommissarin da vor sich zu haben, aber die Nachforschungen führen sie dann doch in ungeahnte Gefilde.
Noch ein Hinweis für alle Weltenbauer: Gerade der Anfang eines Buches ist sehr herausfordernd, wenn man eine ganze Welt mit all ihren Regeln erklären muss. Viele AutorInnen nutzen einen Prolog, um die wichtigsten Informationen dort quasi abzuladen, damit der Leser im Bilde ist, wenn die Geschichte dann in Kapitel 1 losgeht. So macht es zum Beispiel Tolkien in „Der Herr der Ringe”.
Beliebter ist es heutzutage, wenn der Leser langsam über die Handlung in die Welt geführt wird. Diese Methode ist natürlich komplizierter und erfordert eine sehr bewusste Distribution von Informationen, aber der Lesespaß ist gesichert. Ein gutes Beispiel hierfür ist „A Game of Thrones” von George R.R. Martin. Zwar hat auch dieses Buch (das erste der Reihe) einen Prolog, der allerdings steigt mit Handlung ein, zeigt uns das Setting, anstatt es uns zu erklären, und deutet sehr klar auf den zentralen Konflikt des Buches hin: die drohende Invasion der White Walker.
Fazit
Wer die Leser vom eigenen Buch überzeugen will, muss es schaffen, ihnen in den ersten sieben Sekunden etwas zu präsentieren, das sie interessiert. Deswegen sollten AutorInnen sich immer sehr genau mit den ersten paar Sätzen ihrer Geschichten beschäftigen, ihnen besondere Aufmerksamkeit schenken und sich immer die Frage stellen: Was bringt meine Leser dazu, am Ball zu bleiben?
Für mehr Beispiele und genauere Erläuterungen zum Thema empfehle ich „Über das Schreiben” von Sol Stein.
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