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Eine Lanze für Science-Fiction

Aktualisiert: 27. Jan.

Neulich habe ich mit einer Freundin telefoniert, die derzeit Buchwissenschaft studiert. Sie hatte eine Umfrage zum Leseverhalten gemacht, und als es zu den Genres kam, fiel mir auf, dass etwas Wichtiges, ja Unersetzliches fehlt: die Science-Fiction. Ich sprach sie darauf an, und sie sagte: Science-Fiction liest doch keiner mehr.


Wirklich?


Wirklich?



Ein schwieriges Genre


Zugegeben, Science-Fiction ist nicht für jedermann. Im Nachwort meiner Ausgabe von Dan Simmons’ „Hyperion” steht sinngemäß, dass es eine große Anzahl an literarisch hoch gebildeten Lesern gibt, die eine rege Fantasie aufbringen, wenn es darum geht, sich ein Wohnzimmer bei Austen vorzustellen, die sich aber schwertun, sich auszumalen, was ein Hegemoniekonsul sein soll oder wieso ein Raumschiff einen Balkon haben sollte, geschweige denn wie das aussieht. Will heißen: Die Science-Fiction entwirft die eigenen Konzepte der Welt während des Lesens, und wer sich hierauf nicht einlässt – oder nicht einlassen kann –, der wird keinen Zugang zu der Geschichte finden, weil er sich an jedem neuen Konzept stößt und aus dem Fluss gerissen wird. Stimmt, so macht das Lesen keinen Spaß.



Ein historisches Genre


Und doch ist Science-Fiction seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil der literarischen Welt und hat einige Klassiker hervorgebracht: Mary Shelleys „Frankenstein”, Orwells „1984”, Huxleys „Brave New World”, quasi das gesamte Werk von Jules Verne – sie alle beschäftigen sich mit der Zukunft, mit Dystopien, mit wissenschaftlichen Errungenschaften und Entdeckungen. Und sie sind in den Kanon der Literatur eingegangen, weil sie uns etwas über das menschliche Wesen verraten, weil sie uns warnen, uns den Spiegel vorhalten oder einfach nur unsere Abenteuerlust stillen. Wer glaubt, Science-Fiction sei eine Randerscheinung, der hat ein wenig Lesestoff nachzuholen.



Ein entblößendes Genre


Ich möchte sogar behaupten, dass es kaum ein Genre gibt, das uns so viel über unsere eigene, die menschliche Natur sagen kann, wie die Science-Fiction. In der Gegenwartsliteratur ist man als Autor*in immer beschränkt durch die Tatsachen, die gesellschaftlichen Regeln, die Welt, auf der diese Geschichte nun mal spielen muss. Erst, wenn wir diese Regeln hinter uns lassen und neue Regeln schreiben, haben wir die Möglichkeit, eine Idee, ein Konzept, eine Entwicklung bis zu ihrem Ende zu treiben und zu sehen, was tatsächlich passiert.


Ursula K. Le Guin entwirft in ihrem Buch „The Disposessed” eine anarchistische Gesellschaft und stellt dieser eine zutiefst kapitalistische Gesellschaft gegenüber. Das geht, weil sie sie auf zwei Planeten (respektive einem Planeten und seinem Mond) ansiedelt, und sie so autark agieren können. Wie sehen solche Gesellschaften aus? Wie entwickeln sich die Menschen in so verschiedenen Systemen? Sind die einen glücklicher als die anderen?


Tad Williams untersucht in seinem Epos „Otherland” die Frage der menschlichen Unsterblichkeit in Form von Bewusstseinsübertragung ins Internet. Welche Welten würden wir entwerfen, wenn wir ewig in ihnen leben müssten? Wie verhalten wir uns, wenn wir losgelöst von unserem Körper sind? Welche Gestalt nehmen wir an? (Bis heute ungeschlagen: der Avatar, der aussieht wie ein Frühstück komplett mit Besteck und Frühstücksei.)


Wie würde unsere Gesellschaft sich verändern, wenn wir Gene manipulieren könnten, wenn wir uns eigenständig teletransportieren könnten, wenn wir plötzlich keine Kinder mehr kriegen könnten, wenn wir den Weltraum erforscht hätten, nur um festzustellen, dass andere Spezies schon Handtücher auf allen Liegen verteilt haben? Was wird aus dem Menschen? Und damit auch: Was ist der Mensch? Diese Fragen kann die Science-Fiction frei und ungezwungen durchspielen.



Ein beklopptes Genre


Und manchmal sind es auch nur die kleinen Ideen, die mein Herz höher schlagen lassen. Portale zu anderen Welten, die von geheimnisvollen Wesen bewacht werden. Will man ein Portal benutzen, muss man den Wächter bezahlen: und zwar mit einer Geschichte. (Sergej Lukianenko: Spektrum) Aliens sind auf der Erde gelandet, aber auch ziemlich schnell wieder abgereist, ohne Kontakt aufzunehmen, und nun fragt die Menschheit sich, was das bedeutet. (Arkadi Strugatzki: Picknick am Wegesrand) Oder die Baumschiffe und Farcaster, die Zeitgräber und das geheimnisvolle Metallwesen Shrike aus den Hyperion-Gesängen. Science-Fiction lebt von unfassbaren, neuen und manchmal auch absurden Ideen. Genau hier liegt ihre Stärke: Indem sie die Wege des Bekannten verlässt, schärft sie unser Verständnis der Welt, in der wir leben, und eröffnet uns neue Perspektiven auf Dinge, von denen wir dachten, dass wir sie kennen.



Ein wunderbares Genre


Also: Lest mehr Science-Fiction! Harte oder softe, Cyberpunk oder Space Operas, Dystopien oder Utopien, ganz egal. Denn wie im Fall von „1984” wird vielleicht irgendwann der Tag kommen, wo euch die wirkliche Welt extrem an ein Szenario aus einem dieser Bücher erinnert, und vielleicht habt ihr dann die Chance zu sagen: Nein, so soll es nicht werden.


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