In der Science-Fiction nimmt das Worldbuilding einen besonderen Stellenwert ein. Das liegt zum einen natürlich daran, dass futuristische, außerirdische und dystopische Welten glaubhaft dargestellt werden wollen. Zum anderen kommt hinzu, dass das Setting oder der Rahmen, in dem die Geschichte spielt, speziell in diesem Genre ein zentrales Element des Storytellings ist. Das bedeutet, dass das Setting für die Geschichte so wichtig ist, dass sie auseinanderfallen würde, gäbe es das Setting nicht. Denkt darüber nach: Was wäre „1984“ ohne den Überwachungs- und Propagandastaat? Was wäre „Blade Runner“ ohne Androiden? Was wäre „Matrix“ ohne die Matrix? Eine Liebesgeschichte kann man von dieser in eine andere Kultur setzen, sogar in eine andere Zeit, sogar in eine fantastische Welt, und könnte sie mit ein paar wenigen Tweaks entsprechend anpassen. In der SF ist das nicht ohne Weiteres möglich.
Eine kleine Einschränkung: Natürlich gibt es auch Science-Fiction-Geschichten, in denen dem Setting keine ganz so wichtige Rolle zugedacht wird wie in den genannten Beispielen, aber wir gehen hier mal vom Goldstandard aus.
Welche Funktion hat meine Welt?
Die meisten SF-Geschichten beginnen mit einer Idee darüber, wie die Welt aussieht, in der sich die Hauptfigur bewegen soll. Am Anfang steht die Frage: Was wäre wenn? Was wäre, wenn ein Staat jede Bewegung und sogar das Denken seiner Bürger*innen überwachen könnte („1984“)? Was wäre, wenn man Menschen und Androiden nicht mehr voneinander unterscheiden könnte („Blade Runner“)? Was wäre, wenn diese Realität nur eine virtuelle wäre und wir tatsächlich Sklaven in Tanks wären („Matrix“)?
Typisch für Science-Fiction ist, dass diese Fragen sich nicht auf ein Individuum beziehen, sondern dass sie gesellschaftlich, global, manchmal sogar universell sind. Sie durchdringen jede Faser der Story und betreffen alle Figuren, die in dieser Welt agieren. Die Hauptfigur ist nur ein Fokus, den wir als Schreibende benutzen, um die Welt erlebbar zu machen und all ihre Facetten aufzuzeigen – und um eine spannende Geschichte darüber zu erzählen, wie man in diesen Welten lebt oder sie vielleicht sogar zu Fall bringt.
Überlegt euch also ganz zu Anfang: Was ist eure Was-wäre-wenn-Frage? Sie dient als Basis nicht nur für die Welt, sondern auch für die Geschichte. Alles muss sich an ihr orientieren.
Technologie
In der Science-Fiction spielt Technologie natürlich eine zentrale Rolle. Immer wieder wurde das Genre angetrieben von Fragen darüber, wie unsere technischen Entwicklungen unseren Planeten, unser Zusammenleben und unser Menschsein selbst verändern.
Wie nah die Technik in eurer Geschichte an dem ist, was nach unserem heutigen Wissen tatsächlich möglich ist, liegt bei euch – und am Subgenre. Wenn ihr eine spannende Space Opera schreibt, dürft ihr euch einige Freiheiten nehmen und müsst euch nicht unbedingt an das halten, was die Wissenschaft als zumindest theoretisch möglich erachtet. Wenn ihr allerdings Hard SF schreibt und euch sehr eng an die wissenschaftlichen Gesetze haltet, dann solltet ihr keine Ausnahmen machen.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die Gravitation auf Raumschiffen. In Space Operas wird ganz einfach vorausgesetzt, dass es auf Schiffen künstliche Schwerkraft gibt, weil es so vieles im Ablauf der Geschichte einfacher macht. Wie genau diese Schwerkraft hergestellt wird, wird nicht erklärt – und muss es auch nicht. In der Hard Science-Fiction hingegen wird Schwerkraft simuliert, zum Beispiel durch Fliehkräfte, die durch Rotation entstehen, oder durch Beschleunigung und Abbremsen der Schiffe. Diese beiden Prinzipien sind logisch nachvollziehbar und technisch umsetzbar, auch nach unserem heutigen Wissensstand.
Dennoch solltet ihr euch grundlegend mit der Technik auskennen, dir ihr in eure Geschichten einbaut, damit eure Leserschaft nicht enttäuscht ist. Dazu gehören auch Fachbegriffe und zugrunde liegende physikalische Gesetze und Gegebenheiten, zum Beispiel über Entfernungen im Weltraum, Funktionsweisen von Computern (vor allem im Subgenre Cyberpunk) und dergleichen mehr.
Gesellschaft
Die Gesellschaft eurer Welt wird wahrscheinlich grundlegend geprägt sein von eurer Was-wäre-wenn-Frage. Dies wird besonders deutlich im Subgenre Dystopie, das sich speziell mit politischen System und Gesellschaftsformen beschäftigt. Meist geht es hier um unterdrückerische Systeme, in denen einige wenige vom Leid vieler profitieren. Doch es gibt auch die Möglichkeit, eine neue Gesellschaftsform zu entwickeln und quasi mithilfe der Geschichte zu analysieren. So geschieht es zum Beispiel in „Planet der Habenichtse“ von Ursula K. Le Guin, wo sie eine anarchistische Gesellschaft entwirft und sie einer kapitalistischen gegenüberstellt.
Doch auch technologische Entwicklungen haben Auswirkungen auf das Zusammenleben von Menschen – oder Aliens. Was würde zum Beispiel mit der Welt passieren, wenn der Teletransport erfunden würde und wir uns binnen Millisekunden überallhin beamen könnten? Wie würden sich die Transportbranchen verändern? Der Tourismus? Die Arbeit? Die Umwelt?
Achtet in beiden Fällen darauf, dass sich die Gesellschaft logisch aus eurer Grundannahme ergibt. Hinterfragt jeden kleinsten Aspekt und untersucht ihn darauf, ob er in dieser Gesellschaft existieren würde und, wenn ja, in welcher Form. Als Beispiel: In der anarchistischen Welt von Le Guin haben die Menschen natürlich kein Eigentum, also auch kein Wohneigentum. Es gibt kein Geld, also auch keine Miete. Man wohnt natürlich in Gemeinschaftsunterkünften, außer man lebt in einer Partnerschaft und bekommt Nachwuchs, dann wird einem für die Zeit eine Wohnung zugeteilt. Ihr seht, wie weit diese Gedanken reichen. Nehmt also nichts als gegeben hin.
Aber: Saugt euch auch nicht zu viele Neuerungen aus den Fingern. Was ihr aus bekannten Gesellschaftsstrukturen logisch in eure übernehmen könnt, das solltet ihr auch übernehmen. Wenn es zu fremdartig wird, verliert ihr vielleicht die Lesenden. Es ist nicht leicht, die richtige Balance zu finden. Testlesende sind da eine große Hilfe.
Fremde Welten
Beim Thema Weltenbau soll natürlich das Bauen tatsächlicher Welten nicht fehlen. Fremde Planeten sind Sehnsuchtsorte und Höllentore gleichermaßen. Sie können Erfüllung bringen, alle Versprechen brechen und sogar zu Antagonisten in unseren Geschichten werden. Aber einen Planeten zu entwerfen, ist kompliziert, denn auch er sollte in sich stimmig sein. Alles, was auf dem Planeten zu finden ist, ergibt sich aus physikalischen und biologischen Prozessen, die bestimmten Gesetzen folgen – Gesetzen, die im ganzen Universum gelten.
Am häufigsten sehe ich im Lektorat, dass alle grundlegenden Gegebenheiten von der Erde übernommen werden und nur minimale Anpassungen in Flora und Fauna passieren. In diesem Fall wird viel Potenzial verschwendet – abgesehen von der Tatsache, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass ein anderer Planet dieselbe Rotationsdauer um die Sonne, dieselbe Tageslänge, dieselben Jahreszeiten, dieselbe Gravitation, dieselben Klimazonen, dieselbe Atmosphäre etc. hat. All diese Aspekte machen den Charakter eines Planeten aus und können zum Spannungsaufbau benutzt werden. Schlagt hier also nicht den einfachsten Weg ein, sondern werdet kreativ.
Dasselbe gilt für Flora und Faune. Je nachdem, wie der Planet aufgebaut ist, ergeben sich evolutionsbiologische Vorteile und Nachteile, die in ganz anderen Pflanzen und Tieren resultieren können, als wir sie kennen. Es ist nicht gesagt, dass es Säugetiere geben muss, dass sich Fell entwickelt, dass die Tiere jemals das Wasser verlassen etc. Andere Prinzipien hingegen sind wahrscheinlich, zum Beispiel, dass Leben im Wasser entsteht und eine gewisse Form von Symmetrie ausbildet, zum Beispiel bei Sinnesorganen und Gliedmaßen. Fragt euch: Wie würde das Leben auf diesem Planeten unter diesen Bedingungen aussehen?
Dasselbe gilt für Aliengesellschaften. Je nachdem, aus welcher Tierart sie sich entwickelt haben, bringt eine Alienspezies bestimmte Instinkte und Verhaltensweisen mit, die sich in der Art und Weise, wie sie leben, widerspiegeln sollte. Einfach nur leicht abgewandelte Formen der Menschheit zu entwerfen, schöpft nicht das volle Potenzial aus, das euch hier zur Verfügung steht. Fragt auch hier: Was wäre, wenn die intelligenteste Spezies auf dem Planeten aus Ameisen hervorgegangen wäre? Oder aus Vögeln? Oder aus Seehunden? Wie würde sie leben? Welche Technologie würde sie entwickeln? Was wären ihre Ziele und Träume?
Wenn ihr also einen fremden Planeten entwerft und bevölkert, solltet ihr mit den grundlegenden Prinzipien von Planetologie und Evolution vertraut sein. Das Internet bietet hier eine Fülle an spannenden Informationen, und mit ChatGPT lassen sich Szenarien durchspielen und auf Plausibilität prüfen. Auch hier gilt: Je nach Subgenre müsst ihr die Regeln mehr oder weniger stringent befolgen. Aber ein einfacher Abklatsch der Erde ist selten die beste Idee – und es wurde schon Hunderte Male gemacht.
Fazit
Wer eine Science-Fiction-Welt erschaffen will, muss einiges an Recherche einplanen und viele Entscheidungen treffen. Wenn es aber gut gemacht ist, dann kann man mit einer solchen Welt nicht nur begeistern, sondern die Leserschaft vielleicht auf ganz neue Ideen bringen und zu Gedanken anregen, wie es in keinem anderen Genre möglich ist.
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